Null-Fehler-Kultur: Lieber auf Nummer Sicher gehen?

p395289 NEUNsight August 2019

Eine Null-Fehler-Kultur bedeutet Stillstand statt Innovation. Und Stillstand ist der Tod jedes Unternehmens.

Ich möchte Sie zunächst gerne auf eine Reise in meine Vergangenheit mitnehmen, damit Sie verstehen können, warum mir das Thema Null-Fehler-Kultur so sehr am Herzen liegt.

Es war der Herbst 1968. Ich war sechs Jahre alt und – so glaubte ich zumindest  – fast erwachsen, schließlich durfte ich endlich, wie die älteren Kinder in der Nachbarschaft, in die Schule gehen.

Schon in den Wochen zuvor hatte ich mich darauf vorbereitet, bat meine Eltern immer wieder, mir Buchstaben aufs Blatt zu schreiben – und zeichnete sie Schritt für Schritt nach.

Ich war voller Elan und freute mich unbändig darauf lesen und schreiben zu lernen. Doch es sollte alles anders kommen, denn die Deutsch-Lehrerin, die eigentlich für unsere Klasse eingeplant war, hatte kurzfristig eine andere Stelle in einer anderen Stadt angetreten und so stand an diesem ersten Schulmorgen ein Mann vor uns, von dem sogar wir Schulanfänger schon gehört hatten: Der gefürchtete Herr D.

Warum Herr D. so gefürchtet war, wusste ich damals noch nicht, aber es sollte nicht lange dauern, bis ich es verstand. Herr D. schaffte es nämlich, innerhalb weniger Wochen aus einem wissbegierigen und hochmotivierten Kind ein schüchternes Etwas zu machen, das sich nicht mehr traute den Mund zu öffnen. Dieses Kind war ich. Was war passiert?

Gleich in einer der ersten Stunden fragte Herr D. die Klasse, wer von uns denn schon ein paar Buchstaben schreiben könne. Stolz zeigte ich auf und er bat mich nach vorne zur Tafel. Er sagte „A“ und ich schrieb „A“, er sagte „M“ und ich schrieb „M“. Dann sagte er „P“ und ich war mir nicht einhundertprozentig sicher, aber ich war mutig genug, nickte – und schrieb „B“. Herr D. runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Falsch, sagte er laut und in meinen Ohren klang es sehr streng. Statt mich zu loben und eine kleine dezente Korrektur am Buchstaben durchzuführen und mich außerdem noch einen weiteren schreiben zu lassen, schickte er mich zurück zu meinem Platz und ließ ein anderes Kind nach vorne kommen. Eines, das es – so mein Eindruck – besser konnte.

Von diesem Moment an zeigte ich nicht mehr auf, wenn Herr D. fragte, wer denn schon etwas könnte. Es dauerte Monate, bis ich dieses Erlebnis verwunden hatte. Wenig später ging Herr D. in Rente.

Ich dachte erst wieder an ihn, als ich mich Anfang der 90er Jahre mit meinem Beratungsunternehmen selbstständig gemacht hatte. Damals traf ich gleich reihenweise auf Männer und Frauen, die Herrn D. frappierend ähnelten. Es waren  Firmenchefs und Abteilungsleiter, die alle eines gemeinsam hatten: Sie lebten die sogenannte „Null-Fehler-Kultur“, das heißt, sie predigten ihren Mitarbeitern auf Teufel komm raus Fehler zu vermeiden mit der Begründung, dass diese das Image der Firma beschädigen und Kundenbeziehungen zerstören könnten.

Dass sie selbst es waren, die mit einem solchen Herangehen den größten Schaden für das Unternehmen herbeiführten, ahnten sie nicht, denn sie begriffen nicht, dass eine gelebte Null-Fehler-Kultur dazu führt, dass Mitarbeiter aus Angst vor Kritik aufhören zu denken, dass sie sich nicht mehr trauen Vorschläge zu machen, dass sie sich zurückziehen und am Ende nur noch Dienst nach Vorschrift machen.

Eine Null-Fehler-Kultur bedeutet Stillstand statt Innovation. Und Stillstand ist der Tod jedes Unternehmens.

Fehler zu machen dagegen ist gesund, denn (und das ist wissenschaftlich erwiesen) über negative Erfahrungen lernen wir Menschen überproportional mehr als über Erfolge. Mehr noch: Mit dem Mut zum Fehler können wir den Innovationsprozess um den Faktor 5 beschleunigen.

3 Tipps für eine gelungene Fehler-Kultur

1. Gehen Sie gelassen an die Aufgaben heran und versuchen Sie Ihre eigene Angst vor dem Versagen in den Griff zu bekommen – das wirkt sich auch auf Ihre Mitarbeiter positiv aus. Fehler sind nichts Schlechtes, sondern ein wertvoller Erfahrungswert. Wer Innovationstreiber sein und Neues entwickeln will, muss Mut zum Risiko haben. Zeigen Sie diese Einstellung auch gegenüber Ihren Mitarbeitern: Machen Sie ihnen klar, dass Sie es schätzen, wenn jemand mit einer neuen Idee auf Sie zukommt. Und bitte, verzichten Sie auf ´Killerphrasen´ á la „Das haben wir aber nie so gemacht“.

2. Lernen Sie mit Reizwörtern richtig umzugehen: Jeder Mensch reagiert auf bestimmte Wörter. Der Satz „Das muss alles viel schneller gehen“ löst in vielen beispielsweise Blockade und Rückzug aus. Die Folge: Die Betroffenen verlieren ihre Kreativität, schaffen gar nichts mehr. Darum ist es wichtig, die Reizwörter Ihrer Mitarbeiter (und natürlich auch Ihre eigenen) zu kennen.

3. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Start-ups: Gründer denken nicht alles bis zum Schluss durch und vergeuden damit viel Zeit (um vielleicht am Ende festzustellen, dass es auf diesem Weg nicht funktioniert, was schlicht Ressourcen-Verschwendung wäre). Sie setzen stattdessen auf das sogenannte Trial and Error-Prinzip und gehen bewusst das Risiko ein, ihre Idee bereits bei 40 bis 60 Prozent der Entwicklungsstufe in der potenziellen Zielgruppe auszutesten.

Autor: Winfried Neun

Bild: Pixabay (CCO)