Kennen Sie das Gefühl, sich nicht entscheiden zu können? Besonders weil das Leben – privat wie beruflich – heute scheinbar unendlich viele Optionen bietet.
Warum es so wichtig ist, trotz dieser Fülle an Möglichkeiten klare Entscheidungen zu treffen, möchte ich Ihnen am Bespiel von Christian erklären, dem Sohn einer guten Freundin. Christian stand kürzlich vor mir, obwohl ich ihn in den USA wähnte. Er bestätigte: „Dort war ich auch bis gestern. Aber ich habe eine Reihe von Vorstellungsgesprächen in Deutschland und …“ Er ließ den Satz unvollendet und wollte meinen Rat als Experte.
„Vor etwa zwei Monaten habe ich mein BWL-Studium beendet“, erzählte er mir. „Wie du weißt, habe ich ja den Master in den USA gemacht und bin dann gleich auf Jobsuche gegangen…“ Wieder stockte er. „Und es läuft nicht gut?“ „Doch – im Gegenteil. Ich habe fast nur Zusagen bekommen. Und jetzt weiß ich nicht, was ich machen soll.“
Ich schaute Christian ernst an, innerlich aber schmunzelte ich: Situationen wie die mit Christian habe ich im Laufe meiner 30-jährigen Tätigkeit als Berater und Coach schon unzählige Male erlebt: Es fällt uns Menschen einfach schwer uns zu entscheiden und es wird immer schlimmer.
Wir leben in einer spannenden Zeit, in der jeden Tag etwas Neues passiert: Digitalisierung, Globalisierung, Umbrüche in der Politik – Veränderungen geschehen jeden Tag. Das ist einerseits großartig, andererseits macht es uns Angst, denn Veränderungen bedeuten den Verlust von Routinen und den Abbau von Sicherheiten und damit tun wir uns grundsätzlich schwer.
Um das zu verstehen, müssen wir in unserer Geschichte einige Jahrtausende zurückspringen und das Ganze evolutionspsychologisch betrachten. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass sich der Homo sapiens seit jeher schwer damit getan hat, sich Veränderungen zu unterwerfen. Der Grund: Ein solcher Wandel im Ablauf seiner täglichen Routine (beispielsweise der Wechsel des Jagdreviers) kostete unsere Vorfahren enorm viel Energie und das bedeutete ein großes Risiko, das im schlimmsten Fall mit dem Tod enden konnte. Schon damals wog der Mensch also ab: Wie hoch ist der Energieverbrauch? Wie hoch ist die Erfolgschance? Wie hoch das Risiko zu versagen? Und das tun wir noch heute.
Christian hörte meinen Ausführungen interessiert zu. Schließlich sagte ich: „Ich verstehe daher deine Angst dich zu entscheiden, sie ist absolut menschlich.“ „Aber“, sagte ich, „sich nicht zu entscheiden ist schlimmer als sich falsch zu entscheiden. Denn ersteres macht unsicher und perspektivlos. Wer keine Entscheidungen trifft, fühlt sich fremdbestimmt, was auf lange Sicht zu Mutlosigkeit führt und uns unfähig macht im Umgang mit Krisen. Eine falsche Entscheidung dagegen ist ärgerlich, lässt sich aber in den meisten Fällen revidieren.“
Christian nickte: „Ich liege nachts wach und frage mich: Hätte ich das nicht doch so machen sollen? Ist es eine verpasste Chance, sich nicht weiterzubilden, wenn ich nicht noch ein Traineeship mache, sondern sofort anfange zu arbeiten? Soll ich Firma A oder Firma B den Vorzug geben? Will ich wirklich zurück nach Deutschland oder soll ich in den USA bleiben?“
Ich glaube, dass jeder Mensch tief in sich seine Entscheidung schon lange getroffen hat, bevor er sie laut ausspricht. Und war mir sicher: Das wird bei Christian genauso sein.
3 Tipps für das Treffen von klaren Entscheidungen
1. Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl: Studien haben gezeigt, dass intuitiv getroffene Entscheidungen in neun von zehn Fällen rückblickend absolut die richtigen waren. Leider verlernen wir im Laufe unseres Lebens aufgrund unserer kognitiv-analytischen Ausbildung in Schule und Beruf oftmals, auf unser Gefühl zu vertrauen. Versuchen Sie trotzdem immer wieder mal auf rationale Denkprozesse zu verzichten und auf Fragen wie „Warum machst du das?“ einfach mit „Ich weiß nicht, ich fühle mich wohl dabei“ zu antworten.
2. Schreiben Sie Ihre Gedankengänge auf: Natürlich gibt es auch Entscheidungen, die man nicht aus dem Bauch heraus treffen kann, weil sie so schwerwiegend sind, dass sie Ihr Leben (und eventuell auch das Ihrer Familie, Freunde etc.) gehörig umkrempeln würden. In solchen Fällen empfehle ich das Erstellen einer Pro und Contra-Liste, denn das Niederschreiben verlangsamt den Denkprozess und sorgt dafür, dass Sie sich gedanklich nicht im Kreis bewegen, sondern einem roten Faden folgen.
3. Muten Sie sich nicht zu viel zu: Viele Entscheidungen entstehen durch eine Verunsicherung von Außen, die durch ständige Nachfragen bedingt sind: „Wann willst du denn endlich den Job wechseln?“, „Wollt ihr nicht langsam mal ans Heiraten denken?“ Die Folge ist das Entstehen eines Entscheidungsdrucks, den Sie selbst gar nicht zu verantworten haben. In einem solchen Fall hilft es nur mutig zu sein und klar zu sagen, dass Sie das Thema aktuell gar nicht angehen wollen und es darum auch nicht notwendig ist, eine Entscheidung zu treffen.
Jetzt sind Sie natürlich neugierig, wie es mit Christian weiterging, oder? Tatsächlich hörte ich nach seinem Besuch bei mir einige Tage nichts von ihm. Dann klingelte mein Telefon. Christian meldete sich – aus der Schweiz. Er hatte sich entschlossen, zu einem Vorstellungsgespräch nach Zürich zu fahren, zu einer Firma, die er eigentlich gar nicht auf dem Schirm hatte. „Also“, sagte er, „es wird, wie es ausschaut, weder die USA, noch Deutschland…“ Ich gratulierte und klopfte ihm gedanklich auf die Schulter. Nicht wegen der neuen Stelle, sondern weil er es geschafft hatte, sich aus der Gedankenspirale zu befreien und sich zu entscheiden.
Mehr zum Thema auch im aktuellen Podcast dazu.
Autor: Winfried Neun
Bild: Pixabay (CCO)