Mindable: Wie eine App bei Angst- und Panikstörungen helfen kann

p395289 NEUNsight November 2021

Weltweit leiden etwa 790 Millionen Menschen an Angst- oder Panikstörungen, doch die Plätze für eine Therapie sind rar, die Wartezeiten lang. Mit Mindable haben Linda Weber (CEO und Co-Founder) und Eddie Rietz (CTO und Co-Founder) eine App kreiert, die Betroffenen dabei helfen kann, die Wartezeit auf einen Therapieplatz zu überbrücken. Die App wurde kürzlich in das DiGA-Verzeichnis (Digitale Gesundheitsanwendungen) des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgenommen und kann seitdem auf Rezept verschrieben werden, wird also von den Krankenkassen erstattet.

Das NEUNsight Magazin hat mit der Co-Founderin und CEO, Linda Weber, über die App, Digitalisierung im Gesundheitswesen und Gründung gesprochen.

Linda Weber (CEO & Co-Founderin) und Eddie Rietz (CTO und Co-Founder) von Mindable Health GmbH

NEUNsight:

Mindable ist eine App für Menschen, die unter Angst- und Panikstörungen leiden. Wie sind Sie auf die Entwicklung einer App dafür gekommen?

Linda Weber:

Bereits während des Studiums habe ich Gesundheitsapps für Menschen mit Zwangsstörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen designt und durch längere Auslandsaufenthalte verschiedene Gesundheitssysteme im Detail kennengelernt. Zum einen erkannte ich sowohl das Potenzial digitaler Technologien bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen als auch den Handlungsbedarf, insbesondere um Therapie zugänglicher zu machen. Die Inspiration, letztendlich eine App für Agoraphobie und Panikstörung zu entwickeln, lieferte das Behandlungskonzept der Konfrontationstherapie selbst. Bei dieser geht es darum, dass Betroffene sich aktiv im realen Leben wieder und wieder mit ihren Ängsten konfrontieren. Auch und gerade dann, wenn keine Therapeut:in an ihrer Seite sein kann. Das Smartphone hat jedoch fast jeder immer dabei. Per App lassen sich Konfrontationen planen und die Angstkurven werden aufgezeichnet.

NEUNsight:

Wie funktioniert die App? Wie ist sie aufgebaut?

Linda Weber:

Mindable unterstützt Betroffene nach verhaltenstherapeutischen Richtlinien dabei, Paniksymptome und situative Ängste zu reduzieren. Die App bietet aufeinander aufbauende Behandlungsbausteine: Psychoedukation, Symptomprovokation und Konfrontation.

Im ersten Schritt, der Psychoedukation, werden Betroffene über die Wirkmechanismen ihrer Angst und Panik aufgeklärt, um sich dann in den nächsten Schritten aktiv mit ihnen auseinanderzusetzen. Zunächst erfolgt dies über die Symptomprovokation, also das aktive Erzeugen von Paniksymptomen. Dadurch lernt der Körper, sich an diese zu gewöhnen.

Im letzten Schritt, der Konfrontation, stellen sich Betroffene von der App angeleitet angstauslösenden Situationen. Währenddessen können Angstverläufe live per Lautstärkeregler der Kopfhörer aufgezeichnet werden. Alles in allem werden Betroffene so dabei unterstützt, konditionierte Reiz-Reaktionsmuster aufzuweichen und maladaptive Gedanken sowie verzerrte Wahrnehmungen in Bezug auf ihre Ängste zu korrigieren. Dieses Verfahren findet so auch im Praxisalltag Anwendung und gilt als therapeutischer Goldstandard, um Ängste zu behandeln.

Zusätzlich werden durch den Selbstmanagement-Ansatz der App die Autonomie und Selbstwirksamkeit der Betroffenen gestärkt. Ergänzend bietet Mindable ein wöchentliches Checkup zur Erfassung von Symptomverläufen, eine Tagebuchfunktion und grafisch aufbereitete Statistiken und Historien der Übungen. Der Therapieverlauf bleibt dabei immer im Blick. Er kann bei Bedarf per PDF-Export mit Therapeut:in/Ärzt:in geteilt werden. Mindable eignet sich sowohl zur Überbrückung der Wartezeit auf einen Therapieplatz als auch begleitend während einer Therapie sowie zur Rückfall-Prophylaxe.

NEUNsight:

Können Sie uns etwas über die Nutzerzahlen verraten?

Linda Weber:

Die App Mindable wurde im April 2021 als DiGA zugelassen. Seitdem kann sie von Ärzt:innen und Therapeut:innen verschrieben werden. Die Verordnungsquote wächst seit der Zulassung stetig.

NEUNsight:

Gibt es Menschen, die unter Angst- und/oder Panikstörungen leiden, für die die App jedoch nicht geeignet wäre?

Linda Weber:

Ja, es gibt Kontraindikationen, die eine Verordnung ausschließen. Dabei handelt es sich vorrangig um komorbide psychische Erkrankungen oder Akutzustände, die Vorzug in der Behandlung erhalten müssen. Die Informationen zu Kontraindikationen sind sowohl den Verschreibenden als auch Betroffenen öffentlich zugänglich. Die App beinhaltet entsprechende Warnhinweise. Zudem sind alle Übungen, die für Menschen mit körperlichen Einschränkungen, z.B. einer pneumologischen Erkrankung, nicht geeignet sind, mit entsprechenden Warnhinweisen und Handlungsempfehlungen versehen.

NEUNsight:

In Vorstudien wurden bereits deutliche Verbesserungen in der klinischen Symptomatik, der Lebensqualität und den Einschränkungen der Anwender:innen im Alltag deutlich. Können Sie uns noch etwas mehr zu den Ergebnissen der Vorstudien erzählen?

Linda Weber:

Zur Erhebung präklinischer Daten haben wir sowohl eine Real-World-Datenauswertung von Mindable-Nutzer:innen vorgenommen, als auch eine Pilotstudie mit symptomatischen Teilnehmer:innen, sowie eine Befragung mit Therapeut:innen durchgeführt.

Die Auswertung der Daten der 182 Nutzer:innen über einen Zeitraum von acht Wochen ergab, dass sich die klinische Symptomatik, die Lebensqualität und Selbstwirksamkeitserwartungen signifikant verbesserten, während sich die Einschränkungen im Alltag signifikant reduzierten. Um diese Ergebnisse mit standardisierten Verfahren zu validieren, führten wir darauf aufbauend eine vierwöchige Prä-Post-Untersuchung mit 20 Teilnehmer:innen durch und gelangten zu ähnlichen Ergebnissen.

Um eine praxisnahe, bedarfsgerechte und nutzerfreundliche App anbieten zu können, haben wir zusätzlich eine Therapeut:innen-Befragung durchgeführt. Die Rückmeldungen hinsichtlich Benutzerfreundlichkeit, Verständlichkeit, erwarteter Wirksamkeit sowie Empfehlungswahrscheinlichkeit fielen vorwiegend positiv aus.

NEUNsight:

Derzeit laufen klinische Studien zur Nutzung von Mindable. Wann ist dort mit ersten Ergebnissen zu rechnen?

Linda Weber:

Aktuell läuft eine randomisierte, kontrollierte Studie mit zwei Untersuchungsarmen unter der Leitung von Prof. Dr. Thomas Lang und Dr. Sylvia Helbig-Lang. Evaluiert wird die Wirksamkeit von Mindable während der Wartezeit auf einen Therapieplatz im Vergleich zu einer Wartelisten-Kontrollgruppe. Studienergebnisse sind innerhalb von 12 Monaten nach Aufnahme vorzulegen.

Eine weitere randomisierte Studie wird aktuell in Kooperation mit der UK Bonn unter der Leitung von Prof. Dr. med. Alexandra Philipsen und Dr. Niclas Braun durchgeführt. Verglichen wird die Wirksamkeit von Mindable, sowohl gegen ein app-basiertes Entspannungstraining als auch gegen eine passive Kontrollgruppe. Studienergebnisse werden ebenfalls innerhalb des nächsten Jahres vorliegen.

NEUNsight:

Die App gibt es mittlerweile auf Rezept, sie wurde in das DiGA Verzeichnis des BfArM aufgenommen. Wie haben Sie diesen Prozess erlebt und welche Schritte mussten Sie dafür unternehmen?

Linda Weber:

Mit den Vorbereitungen zur DiGA-Aufnahme haben wir im Frühjahr 2020 begonnen. Zunächst führten wir eine Therapeut:innen-Befragung durch und überarbeiteten unsere IT-Infrastruktur bezüglich Datenschutz und -sicherheit nach den Vorgaben des Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG). Zeitgleich liefen die Real-World-Datenauswertung und Pilotstudie, um den klinischen Anforderungen gerecht zu werden. Anschließend führten wir eine systematische Literaturrecherche durch und erstellten gemeinsam mit unseren Forschungspartnern (Jacobs University Bremen, IPP Münster, PTA Hamburg) das Evaluationskonzept für die Wirksamkeitsstudie zum Nachweis des positiven Versorgungseffektes von Mindable. Nach Antragstellung im Januar 2021 bereiteten wir den Produktlaunch der App als DiGA vor. Den offiziellen Zulassungsbescheid erhielten wir Ende April 2021.

Eine der größten Herausforderungen war im Juli 2020, als der Europäische Gerichtshof das Privacy Shield Abkommen mit den USA für ungültig erklärte. Daraus ergaben sich für alle DiGA-Hersteller unmittelbare Auswirkungen, denn viele Tools und Dienste, auf denen die bisherige IT-Infrastruktur basierte, konnten nicht mehr genutzt werden. In vielen Bereichen herrschte Unklarheit hinsichtlich der daraus resultierenden, neuen regulatorischen Anforderungen. Es kam zu Verzögerungen, denn auch das BfArM musste die Situation interpretieren und sich neu positionieren. An dieser Stelle haben wir uns sehr darüber gefreut, dass das BfArM direkt mit uns Herstellern in Kontakt getreten ist und uns in diesen Prozess miteingebunden hat. Zudem hatten wir einen regen Austausch mit dem Spitzenverband für digitale Gesundheitsversorgung e.V.

NEUNsight:

Trotz schleichender Besserungen hinkt die Gesundheitsbranche im Bereich der Digitalisierung noch immer weit hinterher. Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern, um die Digitalisierung im Gesundheitswesen weiter voranzutreiben?

Linda Weber:

Den Hauptgrund sehen wir in der Infrastruktur, die noch im Zeitalter des Faxes stehen geblieben scheint. Diese Infrastruktur müsste komplett neu durchdacht und aufgebaut werden. Ein vereinfachter Prozess und eine ansprechende UX [User Experience] würden, unserer Meinung nach, die Bereitschaft zur Auseinandersetzung und aktiven Nutzung digitaler Angebote bei Ärzt:innen und Therapeut:innen steigern.

Einen weiteren Punkt sehen wir in einer unzureichenden Incentivierung für Ärzt:innen und Therapeut:innen bezüglich der Vergütungssysteme. Beispielsweise bewegen sich die Kostenpauschalen für die Verschreibung einer DiGA im gleichen Rahmen wie das Versenden einer E-Mail oder Faxes. Das verhindert, dass Ärzt:innen und Therapeut:innen sich mit dem Thema auseinandersetzen und sendet eine falsche implizierte Botschaft über den „Wert“ von DiGA. Hier müssen andere Anreize geschaffen werden.

NEUNsight:

Sie haben die Mindable Health GmbH 2019 in Berlin gegründet. Was ist ihr persönlicher Background und wieso haben Sie sich entschlossen, selbst zu gründen?

Linda Weber:

Wir, Linda Weber (CEO & Co-founder) und Eddie Rietz (CTO & Co-founder), haben uns 2018 bei IBM kennengelernt und gemerkt, dass wir die gemeinsame Vision, Lust und Neugier zu gründen teilten und sich unsere Skillsets zur Entwicklung therapeutischer Apps perfekt ergänzten. Während ich (Linda Weber) einen Hintergrund in Psychologie, International Cognitive Visualization und UX/UI Design habe, verfügt Eddie Rietz über das nötige Know-How im Bereich Mobile & Backend Development. Auf das Vorhaben folgten schnell die zündende Idee und der Sprung in die Gründung.

NEUNsight:

Wie war der Prozess des Gründens für Sie?

Linda Weber:

Der Gründungsprozess bis hin zum jetzigen Produkt verging wie im Flug. Gegründet haben wir im April, im November 2019 folgte die Zertifizierung als Medizinprodukt und die Zulassung als DiGA im April 2021. Eine kurze Time-to-Market, mit kleinem Team, hauptsächlich In-house Lösungen und das ohne Großinvestoren und VCs. Wir konnten durch diesen Prozess viele Erfahrungen sammeln. Wenn Gründen eines nicht ist, dann langweilig!

NEUNsight:

Was würden Sie Menschen raten, die ebenfalls gerne gründen würden, sich vielleicht aber nicht trauen?

Linda Weber:

Gründen ist kein Risiko, weder in finanzieller noch persönlicher Hinsicht. Für die Finanzierung gibt es zahlreiche Förderprogramme, die in der Gründungsphase unterstützen. Gründen sollte man als Investment in sich selbst und in die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen sehen. Auch ein mögliches Scheitern ist kein Weltuntergang, sondern eine Lernerfahrung.

NEUNsight:

Wie sehen Sie die Zukunft von Mindable?

Linda Weber:

Wir wünschen uns, dass Apps wie Mindable Menschen helfen können, die in einer psychischen Notlage sind. Immer vor dem Hintergrund, dass wir überbrücken und begleiten, nicht Therapie ersetzen.

Interview: Orla Flock

Coverbild: Pixabay (CCO)

Fotos: © Mindable Health GmbH