Organisationsanalyse als zentraler Baustein der Organisationspsychologie

p395289 NEUNsight Februar 2022

Im Interview mit der NEUNsight spricht der Wirtschaftspsychologe und Verhaltensökonom Winfried Neun über die Organisationsanalyse und welche psychologischen Bausteine es dabei zu beachten gilt.

Winfried Neun

(© K.O.M. Kommunikations- und Managementberatungs GmbH)

 

NEUNsight:

Warum wäre gerade heute eine Organisationsanalyse für viele Unternehmen sinnvoll?

Winfried Neun:

Die Organisationspsychologie ist eine junge Wissenschaft im Bereich der Sozialpsychologie. Sie konzentriert sich auf alle psychologischen Aspekte, die im Rahmen von organisatorischem Handeln, Verstehen und Analysieren eine Rolle spielen. Hierzu bedient sich die Organisationspsychologie den klassischen Methoden psychologischer Forschung, der Statistik und der qualitativen Analyse. Die betriebswirtschaftliche Notwendigkeit der Organisationspsychologie wurde lange Zeit unterschätzt. Jüngste Studien haben aber gezeigt, dass gerade die Betrachtung psychologischer Aspekte die Effizienz und Effektivität einer Aufbauorganisation massiv beeinflussen. Gerade in Zeiten des Wandels, der Anpassungen und der Optimierungen sollten psychologische Aspekte eine genauso bedeutende Rolle spielen, wie es die klassischen betriebswirtschaftlichen Faktoren tun.

Die Organisationsanalyse ist dabei der erste und sehr wesentliche Schritt, um die „unsichtbare Hand“ in den Organisationen kennen, welche zu Effizienz- und Effektivitätsverlust führt. Sehr oft ist der vordergründige Anschein nicht der tatsächliche Kern des Problems. Es empfiehlt sich daher in regelmäßigen Zeitabständen seine Organisation hinsichtlich psychologischer Fragestellungen zu durchleuchten. Viele gut gemeinte Prozessoptimierungen scheiterten an psychologischen Hürden bzw. Hindernissen. Gerade jetzt, in Zeiten von Home Office und Pandemie spielen diese psychologischen Faktoren eine immens große Rolle. Die persönliche Überforderung der Mitarbeiter und Führungskräfte spiegelt sich in einer Verhärtung der Organisationen wider. Die Folgen sind:

  • verlangsamte Entscheidungsprozesse
  • Aussitzen von Veränderungen und notwendigen Anpassungen
  • Reduktion der Kreativität und Problemlösungskompetenz in der Organisation
  • massives territoriales Verteidigungsverhalten von Mitarbeitern und Führungskräften
  • eine hohe Anzahl ungelöster Konflikte, welche wiederum die psychische Belastung verstärken

Alle diese Folgen können über eine systematische Organisationanalyse erkannt und beeinflusst werden.

NEUNsight:

Welchen Prinzipien sollte eine Organisationsanalyse folgen?

Winfried Neun:

Ein zentraler Aspekt, der bei einer Organisationsanalyse immer beachtet werden muss besteht darin, dass diese Analyse nur durch externe Experten objektiv und ohne Verzerrungen durchgeführt werden können. Werden diese Analysen, trotz besseren Wissens, durch interne Abteilungen durchgeführt so entstehen nachfolgende Verzerrungen:

  • Mitarbeiter und Führungskräfte antworten sozial erwünscht, was den Kern des Problems nicht erfasst
  • die Fragestellungen sind dabei oft zu direkt gestellt, was ebenfalls zu einer Verzerrung führt
  • neben der Durchführung von Befragungen spielt die qualitative Erhebung in Form von Beobachtungen eine wesentliche Rolle – hier ist absolute Unabhängigkeit und Neutralität notwendig
  • der Einfluss von einzelnen Meinungen, Bedürfnissen und Machtaspekten verzerren die Ergebnisse bei der Interpretation der Basisdaten

Ein weiterer wesentlicher Aspekt bei der Organisationsanalyse ist die wissenschaftliche Vorgehensweise, welche eine Operationalisierung der Problemstellungen ermöglicht. Hierzu bedarf es spezifischer Kompetenzen aus der Methodik wissenschaftlichen Arbeitens.

NEUNsight:

Gehen Kostenreduzierungen auch ohne Personalabbau?

Winfried Neun:

In der Tat werden die meisten Restrukturierungsprojekte dazu benutzt, um Personal abzubauen. Dies ist sicherlich die einfachste Form Kosten zu senken, aber im Zeitalter des Fachkräftemangels mittel- bis langfristig ein großer strategischer Fehler.

Es empfiehlt sich daher die Kostenreduktionen nicht durch Personalabbau zu realisieren, sondern durch gezielte Steigerung der Zeitproduktivität pro Arbeitsschritt in einem Geschäftsprozess. Beispielhaft wären hier zu nennen:

  • Abbau von Entscheidungshürden
  • Reduktion von Bürokratie
  • Digitalisierung einzelner Arbeitsinhalte
  • Stärkung der Eigeninitiative von Mitarbeitern und Führungskräften

Die oben genannten Beispiele zeigen auf, dass durch Beschleunigung der Prozesse ein wesentlicher Beitrag zur Kostensenkung geleistet werden kann. Es ist kein Einzelfall, dass die eigentliche Bearbeitungszeit einer Leistungserstellungskette um den Faktor 100 erhöht wird, da wesentliche Elemente des Prozesses verlangsamt wurden. Hierbei spielen insbesondere auch die unterstützenden Prozesse eine wesentliche Rolle. Die so gewonnene Zeit kann dazu benutzt werden, ein größeres Volumen bei gleichbleibendem Mitarbeiterbestand abzuarbeiten oder neue zusätzliche Aufgaben ohne weitere Belastung der Mitarbeiter einzuführen. Auf jeden Fall sorgt diese Optimierung für eine Reduktion der psychischen Belastung aller beteiligten Personen und stärkt damit die Zufriedenheit der Mitarbeiter gegenüber dem Arbeitgeber. Ein reduzierter Krankenstand und eine geringere Mitarbeiterfluktuation sind die Folge. Damit können hohe Kosten verhindert bzw. abgebaut werden, ohne dass ein Mitarbeiter entlassen werden muss. Alle Mitarbeiter werden diese Art von Veränderung aktiv unterstützen, da keine Existenzängste durch Arbeitsplatzverlust aufgebaut werden.

NEUNsight:

Eine Restrukturierung beinhaltet grundsätzlich eine ganzheitliche Neuausrichtung. Was ist dabei zu beachten?

Winfried Neun:

Bei einer Restrukturierung größeren Ausmaßes sollten nachfolgende Punkte zwingend beachtet werden:

  • der Unternehmensorganismus hat in seiner Behandlung absolute Priorität, d. h. psychologische Wirkmechanismen der Individuen müssen vorrangig behandelt werden
  • die Sinnhaftigkeit einer kompletten Neuausrichtung muss gut und nachhaltig vermittelt werden
  • Integration aller Betroffenen muss ehrlich und resilienzfördernd durchgeführt werden
  • die Stärkung der Selbstwirksamkeit und zielbezogenen Aufmerksamkeit aller Führungskräfte steht im Vordergrund, denn nur so ist eine nachhaltige Neuausrichtung möglich
  • die Umsetzungsschritte einer umfassenden Neuausrichtung müssen im Vorfeld durch die Verantwortlichen Führungskräfte sehr detailliert ausgearbeitet und in sogenannte Key-Results gegossen werden – denn nur so können die Mitarbeiter jeden Veränderungsschritt nachvollziehen und aktiv realisieren

Grundsätzlich sollten jedoch weitreichende Neuausrichtungen nicht in Krisenzeiten, sondern präventiv in guten Zeiten umgesetzt werden. Die psychologische Belastung einer unsicheren Zeit ermöglicht nicht die konstruktive Bearbeitung notwendiger Veränderungen, da unser Gehirn in Krisenmodus nur eingeschränkt analytisch, weitsichtig und umfassend arbeiten kann.

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Interview: Orla Flock

© Coverbild: Pixabay (CCO)