Stress und Ressourcen in digitalen Arbeitsumgebungen

p395289 NEUNsight Februar 2023

von Prof. Dr. Julia A. M. Reif

© Universität der Bundeswehr München/Siebold

Stellen Sie sich vor, Ihr PC stürzt ab und fährt nicht mehr hoch. Wie reagieren Sie? Die Augen weiten sich, der Puls beginnt zu rasen, die Atemfrequenz steigt an, der Nacken verspannt sich, die Hände beginnen zu zittern und zu schwitzen, Gedanken schießen einem in den Kopf („Wann war mein letztes Back-Up…?“). Ein Albtraum für viele, deren Arbeitsleben sich hauptsächlich mit und am PC abspielt. Diese körperlichen und psychischen Symptome sind typische Anzeichen einer akuten Stressreaktion, wie sie auch schon unsere stammesgeschichtlichen Vorfahren – natürlich in etwas anderen Situationen, wie etwa bei der Jagd oder im Kampf – erlebt haben. Die grundlegende Reaktion ist aber immer noch die gleiche: Nach einer anfänglichen kurzen Schockphase mobilisiert der Körper Energie, um gegen den Stressor anzukämpfen und selbigen zu bewältigen. Wir wenden uns an den Help Desk und bekommen den PC mit dessen Hilfe im besten Fall wieder zum Laufen, der Stressor wurde bewältigt. Unser Körper kann wieder auf sein anfängliches Energieniveau zurückfahren.

Ein kurzer Ausflug in die Geschichte der Stressforschung

Was passiert aber, wenn wir immer und immer wieder mit Stressoren konfrontiert werden? Genau dieses Phänomen entdeckte Hans Selye in den 1930er Jahren in Wien und stellte dabei eine „unspezifische Reaktion des Körpers auf jegliche Notwendigkeit der Anpassung“ (Selye, 1936) fest. Durchgehend fand er in Tierexperimenten (die heutzutage wohl niemals mehr genehmigt werden würden) identische körperliche, pathologische Reaktionen in den Nebennieren, dem Lymphgewebe und Magen, wenn er die Tiere untragbaren Situationen aussetzte (Hitze, Kälte, Helligkeit, Anstrengung, Frustration) (Rosch, 1998). Er nannte diese körperliche Reaktion „Stress“ und schenkte uns damit diesen legendären Begriff, der heute zu den 100 Wörtern des 20. Jahrhunderts gehört (Schneider, 1999). Selye stellte fest, dass der Körper bei der Konfrontation mit einem Stressor nach einer kurzen Alarmreaktion aktiv Widerstand gegen den Stressor leistet und dass dieser Widerstand – bei lang andauernden Stressoren und entsprechendem Verbrauch von Ressourcen – schließlich zur vollständigen Erschöpfung führt. Dieses Ablaufschema (Alarm, Widerstand, Erschöpfung) nannte er das „allgemeine Anpassungssyndrom“. Die Bezeichnung „Fehlanpassung“ hätte wohl besser gepasst (Rosch, 1998). Heute könnten wir es einen „Burnout“ nennen.

Nach dieser kurzen Einführung in die Anfänge der Stressforschung stellt sich nun die Frage, wie Menschen die Entwicklungen der neuen Arbeitswelt wahrnehmen, mit welchen technologiebedingten Stressoren sie dort konfrontiert sind und wie sie darauf reagieren. Statistiken zeigen, dass z.B. viele Erwachsene technologischen Neuerungen (z.B. der zunehmenden Verwendung künstlicher Intelligenz im Alltag) mit Besorgnis begegnen, was zum Teil daran liegt, dass sie einen Verlust von Arbeitsplätzen befürchten, Angst vor Hackerangriffen und Überwachung haben, oder eine zunehmende Abhängigkeit von der Technologie missbilligen (Pew Research Center, 2022). Andere wiederum sehen in der Technologie – vereinfacht gesagt – die Möglichkeit, die Welt zu retten (vgl. Danaher, 2022).

Digitale Mindsets, digitalisierungsbezogene Ängste und technologiebezogener Stress

Auch wir selbst haben eine bestimmte Meinung oder Einstellung, bzw. etwas diffuser, ein inneres Gefühl, was Technik anbelangt. Diese Gefühle, Einstellungen und Gedanken fügen sich zu unserem digitalen Mindset zusammen, also einem System aus technologiebezogenen Annahmen, das sich auf unser Verhalten auswirkt (vgl. Rauch, 2021). Unser digitales Mindset kann positive Anteile, z.B. technologiebezogenen Optimismus, aber auch negative Anteile beinhalten, also digitalisierungsbezogene Ängste und technologiebezogenen Stress.

Digitalisierungsbezogene Ängste und technologiebezogener Stress können aus verschiedenen Quellen resultieren bzw. von verschiedenen Stressoren getriggert werden. Im Bereich der Arbeit sind zu komplexe oder zu viele verschiedene Technologien am Arbeitsplatz, technische Probleme, eine fehlende technische Infrastruktur oder ein unzureichender technischer Support typische Stressoren. Wir selbst als Personen können zu diesem Stress durch eine negative Einstellung zu Technologie, einem fehlenden wahrgenommenen Nutzen der Technologie oder einer mangelnden Technologieaffinität zusätzlich beitragen. Im sozialen Umfeld sind es z.B. ungewollt entstehende Normen im Team, etwa der Erwartungsdruck, dass auf eingehende Nachrichten sofort reagiert werden muss, die uns stressen (z.B. die am Sonntag eingehende E-Mail der Kollegin „Ich hab dir am Freitag doch eine E-Mail geschickt und gefragt, ob…“). Technologiebezogener Stress und digitalisierungsbezogene Ängste können sich aber auch in einem größeren, gesellschaftlichen Kontext zeigen, in Form einer allgemeinen gefühlten Abhängigkeit von Technologie, dem Gefühl, von Technologie kontrolliert zu werden, der Angst, langfristig durch Technologie ersetzt zu werden und den Arbeitsplatz zu verlieren oder der Angst vor Datenmissbrauch und Cyberkriminalität (Wer kennt sie nicht, Nachrichten wie „Wir vermuten, dass Ihre Login-Daten missbräuchlich entwendet wurden“ oder „Wir haben verdächtige Umsatzanfragen festgestellt, die auf einen Missbrauch Ihrer Kreditkarte durch Dritte schließen lassen“). Auch das Gefühl, beim technologischen Fortschritt „nicht mithalten“ zu können und „abgehängt“ zu werden, können uns stressen (vgl. Reif et al., in Vorbereitung; Rohwer et al., 2021; Pfaffinger et al., 2020, Fischer et al., 2021).

Digitalisierungs- und technologiebezogene Ressourcen

Was können nun Organisationen und wir selbst tun, um technologiebezogene Stressoren und Ängste abzubauen bzw. deren negative Wirkung abzupuffern? Im Bereich der Arbeit und Arbeitsgestaltung können Organisationen für Zeitressourcen zur Aneignung neuer Technologien und ein kontinuierliches Technologietraining sorgen. Funktionale, benutzerfreundliche Technologien und das Vorhandensein eines fachkundigen technischen Supports können zudem helfen, technologiebezogenen Stress und digitalisierungsbedingte Ängste zu vermeiden bzw. deren negative Wirkung abzuschwächen. Auf persönlicher Ebene können wir versuchen, uns technologiebezogene Kompetenzen anzueignen und versuchen, Technologie als Chance zu begreifen (anstatt als Hindernis) und Interesse an Technologie zu entwickeln. Dadurch geben wir uns die Möglichkeit, positive Erfahrungen im Umgang mit Technologie und Digitalisierung zu machen, was sich wiederum förderlich auf unsere Selbstwirksamkeit auswirkt. Im sozialen Umfeld, also zum Beispiel im Kolleg:innenkreis, können wir uns regelmäßig zum Umgang mit neuen Technologien austauschen und Wissen und bewährte Verfahrensweisen teilen. Ein positives Teamklima ist hier natürlich von Vorteil. Auf gesellschaftlicher Ebene können rechtliche Regelungen zur Datensicherheit und Arbeitszeiten sowie Maßnahmen zur Cybersicherheit für ein positives Gefühl im Hinblick auf Technologie und Digitalisierung sorgen. Auch Maßnahmen zur Teilnahme am digitalen Wandel können dafür sorgen, dass wir gesellschaftlich nicht „abgehängt“ werden (vgl. Reif et al., in Vorbereitung; Rohwer et al., 2021; Pfaffinger et al., 2020; Jager & Thiemann, 2021).

Techno-Optimismus oder Techno-Skepsis?

Natürlich gibt es auch – insbesondere aus Industrie und Politik – Stimmen, die in der Technologie den Weg zu einer besseren Zukunft sehen. Dieser Techno-Optimismus fußt auf der Annahme, dass wir mit Technologie im Zusammenspiel mit menschlichem Einfallsreichtum und menschlicher Kreativität nahezu jedes Problem lösen können (vgl. Danaher, 2022). Diese Auffassung wird in der Wissenschaft jedoch etwas skeptischer betrachtet, da in der Wissenschaft oft negative Auswirkungen von Technologie, ethische Bedenken und unvorhersehbare Effekte erwartet und erforscht werden. In unseren digitalen Mindsets tummeln sich also dementsprechend optimistische und pessimistische Anteile, die in ihrer Mischung bestimmen, wie wir auf Computerabstürze und Hackerattacken reagieren. Wenn wir technologiebezogene Ressourcen gezielt nutzen, können wir positiv auf unser digitales Mindset einwirken und uns und unsere Mitarbeitenden für die digitale und technologische Zukunft rüsten. Stellt sich nur die Frage, wann Computer ein Menschen-Mindset entwickeln, also Annahmen über uns Menschen und unsere Eigenheiten.

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Autorin: Julia A. M. Reif (Universität der Bundeswehr München)

Prof. Dr. Julia A. M. Reif ist seit 2022 Professorin für Wirtschafts- und Organisationspsychologie an der Fakultät für Betriebswirtschaft der Universität der Bundeswehr München. Sie promovierte und habilitierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie forscht, lehrt und publiziert unter anderem zu Gesundheit und Stress am Arbeitsplatz, Genderunterschieden in Verhandlungen, sowie organisationaler Akkulturation. Als freiberufliche Beraterin arbeitet sie mit nationalen und internationalen Unternehmen in den Bereichen Organisationsdiagnostik und Organisationsentwicklung zusammen.

Coverbild: Pixabay (CCO)

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Referenzen:

Danaher, J. (2022). Techno-optimism: an analysis, an evaluation and a modest defence. Philosophy & Technology, 35(2), 1-29.

Fischer, T., Reuter, M., & Riedl, R. (2021). The digital stressors scale: Development and validation of a new survey instrument to measure digital stress perceptions in the workplace context. Frontiers in psychology, 12, 607598. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2021.607598

Jager, A. & Thiemann, D. (2021). Technostress als Schattenseite der Digitalisierung: Ansatzpunkte für eine gesundheitsförderliche Gestaltung digitaler Arbeitswelten. In S. Kaiser, A. Kozica, F. Böhringer & J. Wissinger (Hrsg.), Digitale Arbeitswelt. Wie Unternehmen erfolgreich die digitale Transformation gestalten können (pp. 75-92). Springer Gabler.

Pfaffinger, K.F., Reif, J. A., Spieß, E., & Berger, R. (2020). Anxiety in a digitalised work environment. Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie (GIO), 51(1), 25-35. https://doi.org/10.1007/s11612-020-00502-4

Reif, J.J.M., Czakert, J. P., Spieß, E. & Berger, R. (in Vorbereitung). Digitalisierungsangst als Gefahr für ein digitales Mindset? In S. Kaiser und B. Ertl (Hrsg.), Digitale Mindsets (pp. tbsd). Springer.

Rohwer, E., Flöther, J. C., Harth, V., & Mache, S. (2022). Overcoming the „Dark Side“ of Technology – A Scoping Review on Preventing and Coping with Work-Related Technostress. International journal of environmental research and public health, 19(6), 3625. http://doi.org/10.3390/ijerph19063625

Rosch, P. J. (1998). Reminiscences of Hans Selye and the birth of ’stress‘. Stress Medicine, 14(1), 1-6.